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Schutzverantwortung: Ein politikwissenschaftlicher Blick auf den Völkerrechtsteil des Koalitionsvertrags

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Dieser Beitrag wirft einen politikwissenschaftlichen Blick auf die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD angestrebte Ausweitung völkerrechtlicher Normen, insbesondere im Hinblick auf die Implementierung der „Schutzverantwortung“ (S. 171 Koalitionsvertrag). Momentane Analysen des Koalitionsvertrages beziehen sich verständlicherweise meist auf innenpolitische Fragen, dort wo es um Außenpolitik geht, ist meist Europa und hier insbesondere die Finanzpolitik gemeint. Die Zustimmung der SPD Mitglieder vorausgesetzt, wird dieser Vertrag die nächsten vier Jahre als Leitlinie für die Außenpolitik und die Politik bezüglich der Vereinten Nationen dienen. Die anvisierten Ziele sind ernst zu nehmen, denn im Kapitel über globale Politik im Koalitionsvertrag finden sich – aus politikwissenschaftlicher Sicht und insbesondere aus Sicht der Disziplin Internationale Beziehungen – einige Formulierungen, die eine kritische Betrachtung erfordern. Nicht zuletzt, um für Normalbürgerinnen nachvollziehbar zu machen, wie bestimmte Konzepte und Ideen, die in der Wissenschaft diskutiert werden, in die Politik Eingang finden.

Im Folgenden machen wir daher diesen Transfer und die potenziellen Probleme damit beispielhaft am Abschnitt im Koalitionsvertrag über „Vereinte Nationen, globaler Dialog und strategische Partnerschaften“  (S. 171 Koalitionsvertrag) deutlich. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der so genannten Schutzverantwortung oder Responsibility to Protect (R2P). Dort heißt es u.a.: „(E)ine Weiterentwicklung des Völkerrechts muss dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen einen wirksameren Beitrag zur weltweiten Durchsetzung von Freiheit und Menschenrechten leisten. Das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) bedarf der weiteren Ausgestaltung und einer völkerrechtlich legitimierten Implementierung. Dabei gilt es vor allem die präventive Säule der Schutzverantwortung international zu stärken“ (S. 171 Koalitionsvertrag). Spannend ist hier zunächst, dass die Responsibility to Protect (R2P) als „Konzept“ verstanden wird. Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt nämlich, dass sich hier durchaus verschiedene Zuschreibungen finden lassen. Während für die einen R2P eine Norm darstellt, sehen andere R2P als „politisches Konzept“ und wieder andere plädieren dafür die einzelnen Bestandteile der R2P unterschiedlich zu benennen (so beispielweise Alex J. Bellamy in seinem Buch „Global Politics and the Responsibility to Protect: From Words to Deeds“, Routledge, 2011).

Drei Fragen stellen sich aus unserer Sicht bei dem oben zitierten Absatz. Erstens: Wie sähe eine weitere Ausgestaltung aus? Zweitens: In welcher Art und Weise würde eine weiter ausgestaltete Schutzverantwortung völkerrechtlich implementiert werden? Drittens muss darüber hinaus gefragt werden, ob es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung der Norm getan wäre. So weist u.a. die anhaltende Systemkrise in Syrien über die theoretische Relevanz hinaus auf die politische Brisanz dieser Fragen hin. Hier sei nur am Rande erwähnt, dass im Koalitionsvertag eine „politische Lösung“ für den Konflikt in Syrien vorgesehen ist (S. 172 Koalitionsvertrag). Wie dies mit dem Bekenntnis zur Schutzverantwortung einerseits und mehr als 125 000 Toten und Millionen von Flüchtlingen andererseits einhergeht, wäre eines eigenen Beitrages würdig.

Wie sähe eine weitere Ausgestaltung aus?

Was den vereinbarten Inhalt der R2P betrifft kann hier zur Zeit lediglich auf  §138 und §139 des Abschlussdokuments der UN Generalversammlung von 2005 verwiesen werden. Dort findet sich der Verweis auf vier Kernverbrechen: Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Versuche, den Geltungsraum der R2P zu erweitern, beispielsweise im Rahmen von Naturkatastrophen (etwa durch Frankreich nach dem Zyklon Nargis in Burma/Myanmar 2008), sind bisher gescheitert. Auch das prozedurale Vorgehen, ausschließlich fallweise durch den UN-Sicherheitsrat – bei Bedarf nach Kapitel VII UN-Charta – zu entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden, ist relativ unumstritten. Einzige Ausnahme stellt der Verweis auf die „United for Peace Resolution“ dar, auf die im Übrigen auch Louise Arbour unlängst in der ZEIT verwiesen hat. Auf die damit verbleibende Möglichkeit der Ausgestaltung verweist der Text im Koalitionsvertrag mit der Stärkung der präventiven Säule. Die Aufteilung der R2P in drei Säulen: „Eigenverantwortung“ (Säule 1), Prävention (Säule 2), und Eingriff der internationalen Gemeinschaft (Säule 3) geht auf einen  Bericht des UN Generalsekretärs Ban Ki-Moon von 2009 zurück. Inwieweit aber ein solcher Fokus sinnvoll ist, bleibt in der wissenschaftlichen Literatur hierzu zumindest umstritten (beispielhaft Aidan Hehir in seinem Buch „The Responsibility to Protect Rhetoric, Reality and the Future of Humanitarian Intervention“, 2012, MacMillan). Es bleibt also abzuwarten, welche Art der Ausgestaltung die Bundesregierung hier im Sinn hat.

Wie könnte eine völkerrechtliche Implementierung aussehen?

Rechtlich stellt der verabschiedete Beschluss der Generalversammlung kein völkerrechtlich bindendes Dokument dar. Lediglich die UN-Sicherheitsresolution 1973 zum Libyen-Einsatz, in welcher der Sicherheitsrat unter Kapitel VII handelte, hat diesen Status. Sie bezieht sich aber auf einen konkreten Fall. Die nicht-konsistente Anwendung der R2P seit 2005 muss völkerrechtlich dahingehend gedeutet werden, dass eine für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht notwendige Staatenpraxis kaum vorhanden ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Teile der R2P unter Umständen bereits kodifiziertes Völkerrecht darstellen. So ist zum Beispiel das Genozid Verbot seit 1946 völkerrechtlich bindend verankert und hat mittlerweile zweifelsohne den Status einer ius-cogens-Norm einhergehend mit Verpflichtungen erga omnes erlangt, wie nicht zuletzt die IGH Entscheidung aus dem Jahr 2007 zur Genozid-Konvention verdeutlichte. Eine rechtliche Kodifizierung der anderen drei Verbrechen in ähnlicher Form wie die Genozid-Konvention entspräche zwar einer völkerrechtlichen Implementierung, deren Sinn jedoch fraglich bliebe. Denn weder konnte die Genozid-Konvention beispielsweise den Genozid in Rwanda zu verhindern, noch war sie in Darfur tatsächlich wirksam.

Es geht daher weniger um eine weitere umfängliche Verrechtlichung der globalen Governance als vielmehr darum, ein Konzept der Umsetzung von Normen durch Einbindung von Stakeholdern zu entwickeln.

Wäre es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung getan?

Entsprechend stellt sich die dritte – aus politikwissenschaftlicher Sicht – interessanteste Frage: Wäre es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung getan? Der obige Ansatz hat in gewisser Weise die Antwort darauf schon vorweggenommen. Mit einer Implementierung auf der Ebene des Völkerrechts ist es eben gerade nicht getan. Warum dem so ist, zeigt ein Blick in die aktuelleren theoretischen Arbeiten zu Normen in internationalen Beziehungen, die sich mit der – für die Politik relevanten – Frage der Umsetzung völkerrechtlicher Normen beschäftigen. In Abwesenheit einer Weltregierung geht die Politikwissenschaft von der Annahme einer Weltgemeinschaft aus, deren Mitglieder – also die Mitgliedstaaten der UN – sich der Beachtung der Völkerrechtsnormen verpflichtet fühlen. Während einerseits gemeinsame Konventionen, Verträge und Resolutionen die Legitimitätsgrundlage dieser Normen bilden, weisen andererseits konstitutionelle (Stichwort: Vetostaaten im Sicherheitsrat), sowie sozio-ökonomische Unterschiede (Stichwort: Vertretung in Gruppen durch die G77 oder die G20) auf die politischen Schieflage des UN-Modells hin. Unter diesen Rahmenbedingungen stellt die Umsetzung von Völkerrechtsnormen eine besondere Herausforderung dar. Um hier gestalterisch mitwirken zu können – wie es der Koalitionsvertrag anstrebt – sind zwei Perspektiven der Politikwissenschaft als Orientierungshilfe für die Erarbeitung von Regierungsmaßnahmen der neuen Bundesregierung zentral. Daher sollen sie abschließend kurz skizziert werden.

Die liberaldemokratische Perspektive geht von der durch das Völkerrecht legitimierten Aufgabe der Umsetzung geteilter moralischer Werte von der globalen Umgebung der UN in die mitgliedstaatliche Umgebung hinein auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips aus. Die radikaldemokratische Perspektive hingegen geht von der Vielfaltsprämisse aus, die als Legitimitätsgrundlage globaler Normen die Möglichkeit zum Widerspruch durch die Mitgliedstaaten voraussetzt. Beide Perspektiven werden durch die aktuelle Normentheorie aufgegriffen. Auf der einen Seite wird von dem Prozess der Normdiffusion ausgegangen. Das heißt, die Umsetzung von Völkerrechtsnormen wird als Zyklus konzipiert, der vorsieht, dass die Umsetzung von Normen durch politische Akteure stufenweise die Übersetzung der im Völkerrecht formalisierten Legitimität vorantreiben (Stichwort: top-down Modell).

Dem gegenüber steht das Konzept der Kontestation, das davon ausgeht, dass die Legitimität von Völkerrechtsnormen durch die Möglichkeit regulären Widerspruchs gestärkt wird. Hier wird vorgeschlagen, durch reguläre Kontestationsforen die Teilhabe betroffener Akteure zu ermöglichen (Stichwort: bottom-up Modell). Dies wäre zum Beispiel durch das Recht auf die Einberufung von ad-hoc-Kontestationen zu etablieren. Diese Foren würden ähnlich wie die Institution der Ombudsperson im Falle des Sanktionskomitees fallbedingt und durch unabhängige Experten geleitet aktiviert. Eine transparente Mitgestaltung solcher Foren stellt unseres Erachtens insbesondere in Anbetracht der um sich greifenden Umgehung der UN Verfahren – sei es durch die BRICS oder andere Staatsgruppen – die sich nicht im liberaldemokratischen Modell wiederfinden, eine vielversprechende Gestaltungsmöglichkeit für die Zukunft der Schutzverantwortlichkeit und anderer Normen dar. So verweist Louise Arbour im bereits erwähnten ZEIT-Artikel unter anderem auf die G20.

Abschließend lässt sich unserer Auffassung nach festhalten, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Strategie der völkerrechtlichen Implementierung nicht Endpunkt von Bestrebungen zur Wahrung des Weltfriedens darstellen, sondern den Ausgangspunkt von notwendigen Debatten und Kontestationen bedeuten. An deren Ende könnte dann eine Schutzverantwortung stehen, die als tatsächlich demokratisch legitim verstanden werden könnte.

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